Dienstag, 2. August 2016

Der digitale Kontrollverlust und das Ende des Kapitalismus

Da wollte ich eigentlich seit Tagen nur einen Eintrag zum Buch "CTRL-Verlust" von Michael Seemann schreiben, da bekomme ich schon wieder einen interessanten Artikel aus "Die Zeit" vom 29. Juli in die Nachrichtenliste vom mittlerweile bekannten Michael Bohmeyer zugepostet, den ich sehr interessiert durchgelesen habe und danach das große Bedürfnis verspürte hier klar eine Gegenposition einnehmen zu müssen. Der Artikel wiederum ist von einem gewissen Patrick Spät, seines Zeichens Philosoph, ehrlich gesagt, vorher noch nie gehört aber das kann schon mal vorkommen, der jedenfalls kühn behauptete, selbst die Digitalisierung könne den Kapitalismus nicht bedrohen!
Diese Aussage jedenfalls, vertrug sich nämlich in keinster Weise mit dem, was ich vorher in dem Buch von Michael Seemann las und wie das ist, der Widerspruch reizt die Gehirnzellen und so überlegt ich kurz und kam zu dem Schluß, dass Herr Spät hier eindeutig die falschen Prognosen aufstellt und deshalb hab ich so reisserisch in der Headline formuliert "Das Ende des Kapitalismus". Es ist nicht ganz so, obwohl ich mir vorstellen kann, dass sich das viele wünschen würden, aber es ist auch nicht ganz falsch.
 
Aber der Reihe nach.
 
Zunächst zum Buch "CTRL-Verlust" von Seemann. Es war eines der Bücher, auf die ich schon länger gewartet hatte. Denn es geht um die Digitalisierung der Welt. Für mich als eher von der kulturellen Seite herangehenden Menschen war es ein drängendes Bedürfnis, die digitale Welt in ihrer Innerlichkeit bzw. in ihren Auswirkungen auf Moral und Gesetz zu beschreiben. Schon lange hatte ich die vage Erkenntnis, dass wir mit der Schaffung der digitalen Welt einen völlig neuen Weltraum betreten haben. Und wie das eben so ist mit neuen Welträumen, existieren in diesen neuen Welträumen nicht unbedingt die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie in der Welt, in der wir leben, ich nenne sie einfach mal analoge Welt um einen Begriff zu haben, der sich von der digitalen Welt klar abgrenzt.
Nur fehlten mir dazu ein paar stichfeste Parameter, ein paar Formeln, die das ganze bildlich darstellen können. Jetzt war mit dem Buch "CTRL-Verlust" so ein Kandidat auf der Matte, der ein Stück weit Anregungen schuf, wie diese digitale Welt am besten zu beschreiben ist.
Und ich konnte einige Anregungen finden.
 
Die Essenz dieses Buches ist jedenfalls das, was der Titel schon aussagt: Kontroll-Verlust! Was meint das genau? Nun durch die Digitalisierung sind wir in weitaus größerem Maße nicht mehr in der Lage, unsere Daten zu kontrollieren. Also Daten zur eigenen Person, zum Unternehmen, zum Staat usw. usf. Die Daten sind aufgrund der digitalen Eigenschaften so flüssig, dass ich wie der Autor so schön schreibt, weder weiß, wo alles Daten von mir erhoben werden, wo diese Daten gespeichert werden, wer darauf Zugriff hat und was aus diesen Daten wieder für Erkenntnisse sprich neue Daten generiert werden. In seinen Worten:
"Daten, von denen wir nicht wussten, dass es sie gibt, finden Wege, die
nicht vorgesehen waren, und offenbaren Dinge, auf die wir nie gekommen
wären." S. 38
Seemann definiert dazu drei sogenannte Treiber, die diesen Kontrollverlust hervorrufen und verstärken:
 
 "1.Die immer engere Verknüpfung der digitalen und analogen Welt,
ermöglicht durch immer mehr und immer intelligentere Sensorik.
 2. Die immer billigere Speicherung und schnellere Kopierbarkeit von
Daten, die durch beständig wachsende Kapazitäten von Leitungen
und Datenträgern möglich ist.
 3. Die sich ständig verbessernden und mit mehr Rechenkraft ausgestatteten
Analysemethoden, die immer neue Einblicke in bereits
existierende Datenbestände erlauben."
 
Nach alldem, was ich mir bisher durchgelesen habe, ist Seemann hiermit ein ganz wichtiger Schritt zur Erklärung der heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen mit ihren derzeit wohl vielen so bedrohlich anmutenden Erscheinungen gelungen.
Es ist der Kontrollverlust, der die Menschen unbewußt beunruhigt und der sie momentan ganz klar zu sehen, in die Illusion von Rechtspopulisten treibt, die die gute alte Zeit herbeireden wollen. Nur wird es kein Zurück geben können, es sei denn, wir schaffen das Internet ab. Das wird kaum möglich sein. Also wird es sehr viel auf klare Analysen ankommen, die einen Weg in eine Zukunft aufzeigen können.
 
Nun mag man meinen, na, ja -klar die Daten hier und da von mir, die sind halt nicht mehr nur bei mir, aber das Ende des Kapitalismus, das verstehe ich nicht.
Um hier das ganze Ausmaß der Digitalisierung zu beschreiben ist es wirklich wichtig, seinen Blick zu weiten. Nämlich von der Privatperson zu Unternehmen und ganzen Staaten. Ein Staat wie die USA wurde förmlich in die Knie gezwungen durch eine Person, Edward Snowden und seine Veröffentlichungen. Ein Ding der Unmöglichkeit würde man meinen, nein, dank der Digitalisierung und nur dank ihr, konnte so etwas möglich sein. Der Punkt ist, dass niemand mehr sicher sein kann, nicht mal die Geheimdienste, dass die Art und Weise wie sie in der Welt agieren unter Verschluss bleibt. Es ist eine neue Art von Transparenz in die Welt gekommen, mit der wir erst lernen müssen umzugehen.
 
Und es ist wichtig seinen Blick zu weiten, was Digitalisierung für den Handel also die Wirtschaft mit sich brachte.
Ökonomisch betrachtet, fing das ganze ja mit der Musikindustrie an. Durch Tauschbörsen wurde File-Sharing möglich zwischen Menschen rund um den Globus. Die Musikindustrie pfiff auf dem letzten Loch denn es kaufte keiner mehr die CD's. und ähnliche Artikel. Es ging weiter mit den Journalisten und der Presse. Was war mit dem Urheberrecht, das eine Vervielfältigung des eigens geschriebenen Artikels nur unter Beachtung gesetzlich vorgegebener Standards möglich machte? Es bröckelte nur so dahin. Alles was digital war, konnte massenhaft kopiert werden. Wie sollte man da noch Geld verdienen, das war auch eine Frage von Knappheit, welches ein typisches Charaktermerkmal kapitalistischer Produktionsweise betrifft. All das wurde in Frage gestellt. Statt Knappheit erlaubt die digitale Welt Überfluss in nicht gekanntem Ausmaß. Auch die Post verlor im Grunde ihr Monopol. Kontakt mit anderen Menschen - das ging jetzt via Mail und zwar kostenlos!Und mittlerweile ist die Digitalisierung in noch viel mehr Bereiche vorgedrungen. Der Begriff "Industrie 4.0" illustriert den Trend, der sich wirtschaftlich abzeichnet.

Ein wichtiger Punkt warum dies möglich ist, nennt Seemann auch, wie ich meine ganz zurecht: Informationen sind nichtrivalisierend! Damit meint er, dass im Gegensatz zu physischen Gütern, ich Informationen teilen kann, ohne dass ich deshalb selber weniger davon hätte. Konkret, eine Tasse ist entweder in meiner oder deiner Benutzung, es kann jedenfalls bei einer Tasse und zwei Personen immer nur einer trinken. Aber einen Witz kann ich erzählen ohne dass ich hinterher einen weniger besitze. Und die Person, die ihn erzählt bekommt, kann ihn wiederum teilen ohne selbst etwas zu verlieren.

Welche Tendenzen zeichnen sich also ab:
Die alten Institutionen von Ämtern, Behörden, ja vllt. auch Parteien und sonstigen Vereinigungen bis hin zu gesellschaftlichen Konstrukten wie dem Nationalstaat werden an Bedeutung verlieren. Bedeutung, die sie innehatten, weil sie die Kontrolle über Informationen hatten.
In Zukunft werden diese alten Institutionen abgelöst, zumindest in ihrer Bedeutung zurückgedrängt von neuen Institutionen im digitalen Bereich, Seemann nennt sie Plattformen und meint damit nichts anderes als all das, was wir im digitalen Bereich kennen wie Internet, Google, Facebook etc. pp. Der Charakter der Plattformen jedenfalls ist der, dass diese nur die Infrastruktur zur Verfügung stellen und die eigentlichen Nutzer in direkter Kommunikation miteinander agieren. Seemann unterscheidet zwischen offenen und geschlossenen Plattformen und verweist darauf, dass zwar Plattformen wie Facebook geschlossen sind, man muß sich vorher anmelden, innerhalb der Plattform aber agieren die einzelnen Nutzer dezentral in lockeren Verknüpfungen und Ende-zu-Ende Kommunikationen.

Natürlich wird durch Plattformen wie Facebook auch ein neues Problemfeld eröffnet, denn es ist klar, dass solche Plattformen einen bedeutenden Kontrollgewinn haben, nur die Besitzer von Facebook haben Zugang zu allen Nutzern. Und Seemann erwähnt auch den Facebook-Filter-Effekt, den ich bereits in einem früheren Post kommentierte, nämlich die Gefahr, dass durch die Einkreisung der eigenen Vorlieben schnell eine Wirklichkeit generiert wird, die sehr harmonisch aussieht aber in Wirklichkeit gar nicht so existiert. Man hat nur gefiltert und damit vieles ausgeblendet. Hier kommt noch ein sehr schönes Argument mit zum tragen, welches die Problematik erst deutlich werden lässt. Zwar bin ich einerseits selbst für die Erfassung von neuen Kontakten und Seiten also Informationen verantwortlich, selektiere also schon aufgrund meiner eigenen meist nicht mal wirklich bewußten Präferenzen, aber gerade im Fall von Facebook wird mir ein Informationsfeld angezeigt, das nicht nur auf den eigenen Vorlieben beruht sondern durch Algorithmen gesteuert wird, die von Facebook selbst geschaffen wurden. Ich werde also ein Stück weit fremdgesteuert. Hier wird es also in Zukunft darauf ankommen, wie auch der eigentliche Nutzer in die Entscheidungsprozesse der Plattformen mit eingebunden wird. Es wird nötig sein, dass Plattformen wiederum mehr Verantwortung übernehmen. Oder wie Seemann schreibt:

"Twitter, Facebook und Google
müssten die Kriterien offenlegen, nach denen sie Kontrolle ausüben." S. 209
 Seemann stellt, vielleicht wie einst Luther an die Schlosskirche zehn Regeln auf, die als Thesen formuliert, das neue Spiel charakterisieren sollen. Diese 10 Thesen aus dem Inhaltsverzeichnis kopiert sind:


0 – Es gilt das Neue

1 – Du kannst das Spiel nicht gegen den Kontrollverlust spielen

2 – Die Überwachung ist Teil des Spiels

3 – Wissen ist, die richtige Frage zu stellen

4 – Organisation und Streit für alle!

5 – Du bist die Freiheit des Anderen

6 – Macht hat, wer die Plattform kontrolliert

7 – Staaten sind Teil des Problems, nicht der Lösung

8 – Datenkontrolle schafft Herrschaft

9 – Der Endgegner sind wir selbst

Jetzt auf alle Thesen einzugehen würde den Rahmen des Artikels sicher sprengen, ich kann mir aber vorstellen, in neuen Posts Stück für Stück die ein oder andere These aufzugreifen.

Ein paar Bemerkungen aber möchte ich noch loswerden.

1. Das Buch selbst ist in digitaler Form frei verfügbar. Der Link ist oben angegeben, dann auf der Seite einfach schauen, es gibt die Möglichkeit es als PDF anzuschauen, usw. Warum ich das erwähne, ist genau der Punkt, um den es im Grunde Seemann die ganze Zeit geht, die Digitalisierung und der damit einhergehende Kontrollverlust. Er ist sich dessen klar bewußt und geht so die Schritte, die in einer digitalisierten Welt eher von Erfolg gekrönt sein werden. Er finanzierte das Buch über Crowdfunding, was selber wiederum nichts anderes ist als eine Plattform, die eine Ende-zu-Ende-Kommunikation ermöglicht usw. Er bietet das Buch digital an, damit es nicht über Umwege sowieso wieder im digitalen Raum als "Raubkopie" umhergeistert. Das finde ich konsequent zu Ende gedacht.

2. Seemann hat eine schöne Formulierung hinsichtlich der Beschreibung von Eigentum in der digitalen Welt konstruiert:

"Die Verdatung der Welt hebt das Eigentum nicht auf,
aber sie bietet eine neue Schnittstelle an, welche die Rivalität der
Dinge verringert und dadurch die Modi ihrer Nutzung verändert." S. 116
Das fand ich eine sehr gelungene Umschreibung und zwar weil ich mit einem anderen Text haderte, es geht um das Buch von Ilias Braun "Grundeinkommen statt Urheberrecht" - zwar kommt der Autor Braun auch zur Quintessenz dass ein Grundeinkommen eine Möglichkeit wäre, die neuen Formen des Austauschs gesellschaftlich akzeptabel zu machen, (im übrigen erwähnt auch Seemann das Grundeinkommen positiv - S. 218), aber auf dem Wege dahin, macht Braun in einem Kapitel einen für mich etwas unglücklichen Argumentationsstrang auf, mit dem ich so nicht richtig zufrieden war weil er am Ende auch nicht ganz richtig war. Aber worauf Braun zunächst hinaus wollte, war, dass Argument zu entkräften, es würde sich bei den Gütern im digitalen Raum um immaterielle Güter handeln, die deshalb nicht den Regeln der analogen Welt gehorchen. Das ist nämlich die Meinung der Digital Natives und auch meine Meinung. Deshalb war ich verwundert, dass Braun dagegen argumentierte. Aber durch die Formulierung bei Seemann bin ich auf die Lösung gekommen. Braun argumentiert insofern falsch, als das er unbewußt behauptet, dass Leute wie ich behaupten würden, es könne im digitalen Raum gar kein Eigentum geben, das aber bedeutet es eben gar nicht, wenn man sagt, dass es im digitalen Raum immaterielle Güter gäbe sondern es ist wie Seemann es hier formulierte eine neue Art von Eigentum!!! Das verträgt sich dann auch gut mit meinem ohnehin immer vorhandenen integralen Hintergrund. Denn auch da geschieht Entwicklung meist durch die Differenzierung, Transformation und Integration von Dingen, nicht dadurch, dass etwas einmal da ist und auf der nächsten Entwicklungsstufe nicht. Obwohl es auch solche Dinge gibt (siehe moralische Entwicklungslinie - aber das ist hier nicht gefragt) aber in dem Falle des Begriffs Eigentum ist dies sehr gut anwendbar. Der Modi des Eigentums ändert sich! Sehr schön formuliert!
Seemann schreibt auch, dass die unter dem Begriff "Share-Economy" gefassten digitalen Wirtschaftsarten, die "Plattformwerdung" des Eigentums bedeuten. Also dieser neue Modi von Eigentum wird hier sehr deutlich herausgearbeitet.
Seemann benutzt dann noch einen etwas technischen Begriff mit dem ich bisher nicht so vertraut bin, nämlich Iteration, er schreibt, "das Eigentum verschwindet nicht - es iteriert" was ich jetzt noch nicht so ganz nachvollziehen kann, aber das wird mir sicher noch klarer werden im Laufe der Zeit.

3. Die Verwendung des Worts "Spiel"

Ob sich Seemann da jetzt so bewußt war bei der Verwendung dieses Ausdrucks, ich fand das sehr gelungen weil ich das Wort "Spiel" in einer eher spirituellen Art verwende. Im Sinne eines Denkens, dass davon ausgeht, dass alles, was hier auf Erden sich abspielt, Teil einer gewaltigen Illusion, aber eben einer täuschend echten Illusion ist. Wie schon die alten Inder mit dem Wort "Maya" aufzeigen wollten, ist dieses Leben hier eine Illusion, ein Spiel. So als ob der eigentliche Akteur hinter dem Fernseher sitzt und wir die Akteure im Spiel nach den Anweisungen dieses Akteurs zu Werke gehen. Ich halte diese Vorstellung für äußerst wichtig, da sie weitreichende Folgen hat. Aber bei Seemann liest man verständlicherweise wenig von spirituellen Dingen, er wird den Begriff wohl eher von der digitalen Welt der Spiele abgeleitet haben. Was mir aber durchaus gefällt. Denn durch dieses Wort "Spiel" wirken die anstehenden Vorgänge und Transformationsprozesse leichter, als wenn irgendwelche ideologiebelastenden "-Ismen" wieder aufgebaut werden. Jedenfalls für den Anfang ist das ganz in Ordnung zur Beschreibung der neuen digitalen Welt.

So, nun habe ich erst mal die wichtigsten Dinge zum Buch von Michael Seemann geschrieben. Ich kann es wärmstens empfehlen. Klar, die integralen Gedankenkonzepte fehlen mir noch, aber vielleicht ist das ja der Part, den ich übernehmen muß.

Jetzt ist es aufgrund der Länge vielleicht etwas ermüdend die Argumentation, die nun noch folgen sollte, anzuschließen. Ich wollte ja noch etwas zu dem Artikel des Philosophen Spät unter Berücksichtigung der hier vorgetragenen Erkenntnisse und weiteren Bemerkungen notieren, aber ich glaube, das wird dann der zweite Teil in einem neuen Post werden! In Kürze sozusagen folgt das Ende des Kapitalismus ;-) Wir vertagen das nur!


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