Samstag, 12. September 2020

Von der Psychologie zur Politik - Ken Wilber Statement

 Hier ein Statement von Wilber, dessen Quelle ich mir leider nicht aufgeschrieben habe. Nur, dass ich es mal auf Diskette gespeichert hatte, was darauf hindeutet, dass es schon ziemlich alt ist. Ich hab diese Erklärung Wilbers immer mal wieder im Gedächtnis präsent, aber nie die einzelnen Schritte.

 

'Das Fachgebiet Psychologie führt unweigerlich zur Soziologie, die führt dann unweigerlich zur Anthropologie,
und von hier zur Philosophie. Und dann, merkwürdigerweise, bizarrerweise, führt das zur Politik.

Das geht so: Ein wichtiger Zweig der Psychologie ist die Psychotherapie. Alle Schattierungen der Psychotherapie nehmen ihren Ausgangspunkt an der Tatsache, daß Menschen unglücklich sind. Psychotherapie versucht, die Ursachen dieses Unglücklichseins in den Köpfen der Menschen oder in ihrem
Verhalten aufzuspüren. Jemand der eine "Geisteskrankheit" hat, eine "Neurose" oder eine "erlernte Anpassungsstörung", welche Bezeichnung auch immer, dieser Mensch ist "beeinträchtigt" in seinem Realitätsbezug. Dem wird jeder zustimmen.

Aber: Was ist Realität? Wie die Komödiantin Lily Tomlin sagt: "Was ist Wirklichkeit? Nichts als eine gemeinsame Ahnung." Anders ausgedrückt, ist das, was wir Wirklichkeit nennen, nicht in einem hohen Maße ein soziales Konstrukt?
Wie können wir sagen, jemand sei in seinem Realitätsbezug beeinträchtigt, ohne zu wissen, worauf genau er sich beziehen soll? Was, wenn Sie beeinträchtigt sind in ihrem Realitätsbezug auf eine Gesellschaft von lauter Nazis? Wäre das nicht eher ein Zeichen für geistige Gesundheit, keine Krankheit?

Wenn man also "psychische Krankheit" definieren will, muß man plötzlich definieren, was eine "gesunde" Gesellschaft ist. Es gibt keinen anderen Weg, um zu bestimmen, was "beeinträchtigter Realitätsbezug" eigentlich heißen soll. Beeinträchtigt in bezug worauf? Krankheit im Vergleich zu welcher Definition von
Gesundheit?

Dann - als Theoretiker - wird man wohl damit anfangen müssen, sich verschiedene Gesellschaften und Kulturen genauer anzusehen, und zu verstehen suchen, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Gesundheit oder Normalität, oder gar "Realität" definiert haben. Und das wird
uns dann sehr rasch zur Anthropologie bringen, also zur Beschäftigung mit der Entwicklung der menschlichen Spezies im allgemeinen.

Und schon geht es zurück in die Geschichte und in die Vorgeschichte, man versucht in alledem einen Sinn zu finden, herauszufinden, was es bedeuten könnte, "normal" zu sein, weil man anders keine Möglichkeit hat, die Bedeutung von unnormal oder krank zu definieren; und deswegen - mal ganz ehrlich - haben wir eigentlich überhaupt nichts, was wir unseren Patienten wirklich empfehlen könnten. Wie können wir sie "gesund machen", wenn wir noch nicht einmal sagen können, was Gesundheit ist?

Und - ich bedaure es, das innere Geheimnis der Anthropologie aufzudecken - aber die Anthropologie birgt keinerlei Antwort. Alles was wir finden werden, ist die Tatsache, daß menschliche Wesen vor ungefähr, sagen wir mal 400.000 Jahren, die Weltbühne betreten haben. Dann treibt ein heftiger Wildwuchs von
Kulturen und Gesellschaften seine Blüten, und Tausende verschiedener Normen und Regeln und Glaubenssysteme und Verfahrensweisen und Ideen und Künsten und was man sich sonst noch so vorstellen kann, explodieren förmlich auf dieser Bühne.

Man wird dann also sehr bald feststellen, daß man noch nicht einmal beginnen kann, hier etwas zu begreifen, ohne irgendeine Form geistiger Kategorien, die einem helfen, diesen heterogenen Wust zu ordnen, zu klassifizieren und zu strukturieren. Was ist nützlich und was nicht? Was ist gut, was schlecht? Was ist
wertvoll und was unwichtig? Was ist wahr und was falsch? Und schon ist man plötzlich ein Philosoph.

Oh nein! Man kann noch nicht einmal anfangen, etwas vom menschlichen Dasein zu begreifen, ohne tief in philosophische Themenkreise einzutauchen. Sogar jene, die der Philosophie jegliche Bedeutung oder Validität absprechen - sie führen philosophische Gründe an für ihre Ablehnung! In anderen Worten, ob man mag oder nicht, Mensch sein heißt Philosoph sein. Die einzige Wahlmöglichkeit besteht darin, ob man ein guter oder ein schlechter sein möchte.

Und dann, wenn man denn nun versuchen will, ein guter Philosoph zu sein, passiert es: Sobald man sich als Philosoph erlaubt, tatsächlich ein paar triftige Schlüsse zu ziehen - über das Wesen von Wirklichkeit, die Natur des Menschen, des Geistes, des Guten, Wahren und Schönen - dann wird man sehr schnell feststellen, daß mit zwingender Notwendigkeit versucht werden muß, die Gesellschaft zu einem Ort zu machen, an dem eine größtmögliche Anzahl von Menschen die Möglichkeit haben, das Gute und das Wahre und das Schöne anzustreben. Das wird dann zu einem brennenden kategorischen Imperativ, der sich mit seiner unerbittlichen moralischen Forderung in die Seele hineinfrißt.

Foucault hat auf eine der großartigen Sachen bei Kant hingewiesen, nämlich, daß er als erster moderner Philosoph die zentrale Frage gestellt hat, was es für eine Gesellschaft bedeutet, aufgeklärt (erleuchtet, A.d.Ü.) zu sein, in seinem Aufsatz "Was ist Aufklärung?". Wohlgemerkt, nicht einfach "Aufklärung" (engl.
"Enlightenment" = meint im doppelten Sinn Aufklärung und Erleuchtung - A. d. Ü.) für Sie oder für mich, sondern für die Gesellschaft als Ganzes! Oder Karl Marx: Die Philosophen der Vergangenheit haben lediglich versucht, Wirklichkeit zu verstehen, während die wirkliche Aufgabe darin liegt, sie zu verändern. Sozial
verpflichtet zu sein!

Und schon befindet man sich, als moderner Philosoph, im weiten Feld politischer Theorie. Man wird sich klar darüber, daß Bodhisattvas wohl oder übel zu Politikern werden müssen, so gruselig das zunächst auch klingen mag.'

Wilber - ein Interview